Kinder christlicher Eltern auf Abwegen
“Wenn die einstigen Engelchen ihre Flügel verlieren”
Lillemor Alesjaer ist die Frau des international bekannten Pastors Age Alesjaer, Leiter einer der größten Gemeinden Norwegens, dem „Oslo Kristne Senter“. Hinter dem Ehepaar liegen harte Zeiten. „Ich würde meinem ärgsten Feind nicht zumuten wollen, was wir durchmachen mussten“ sagt sie. „Aber ich möchte auch nicht mehr missen, was ich in diesen Jahren gelernt habe.“ Lillemor hat ein Buch über die Zeit geschrieben, als ihre Söhne David und Oyvind sich von allem entfernten, was ihnen hoch und heilig war.
Als einer der Söhne das erste Mal betrunken nach Hause kam und sich im Badezimmer übergab, begann Lillemor, sich Sorgen zu machen. Der Schmerz und die Sorge verstärkten sich, als Frisur und Kleidung des anderen Sohnes schillernde Ausdrucksformen annahmen. Ihre Söhne hatten Freunde, denen man lieber nicht in der Nacht begegnen wollte…
Lillemor Alesjaer durchlebte den schlimmsten Albtraum christlicher Eltern:
Ihre Engelchen wandten sich vom Christentum ab und begannen mit Alkohol und Drogen.
In ihrem Buch „Wenn Engelchen ihre Flügel verlieren“ berichtet Lillemor offen über diese schwierige Zeit. „Als Mutter fühlte ich mich wie ein absoluter Versager“. Und ihr Mann? Sein Verhalten tröstete Lillemor nur bedingt. Er schien nicht sehr beunruhigt zu sein, denn, so sagte er: „Ich habe meine Sorgen auf den Herrn geworfen.“ Nach einiger Zeit konnte auch Lillemor innerlich zur Ruhe zu kommen und sie begann zu glauben, das ihre abgefallenen Söhne eines Tages wieder „nach Hause“ finden würden.
„Wir glaubten, wir hätten das schwierige Teenageralter hinter uns gebracht, als unsere Jungs 17/18 Jahre alt waren. Und hatten das Gefühl, diese Zeit wirklich gut bewältigt zu haben. Wir hatte keine Ahnung, was auf uns zu kommen würde“, erzählt Lillemor.
Sie erinnert sich an einen freien Abend, als sie mit ihrem Mann in Oslo zum Essen ausgegangen war. Anschließend schlenderten sie Oslos Flaniermeile hinunter und ruhten sich auf einer Bank ein wenig aus. Plötzlich kamen ihnen einige betrunkene Jugendliche entgegen. Sie waren verdreckt, stanken und bettelten um Geld, um sich Essen kaufen zu können.
„Die armen Mütter, die heute abend solche Kinder in Empfang nehmen müssen“ dachte Lillemor. „Aus was für Verhältnissen sie wohl kommen?“ Lillemor war eigentlich sicher, das das Zuhause dieser Jugendlichen eine erhebliche Mitschuld an deren Zustand trug. „Ich ahnte nicht, dass nur wenige Jahre später ich eine solche Mutter sein würde…“
Im Bad übergeben
Lillemor Alesjaer bemerkte, wie ihr Sohn David die Schule schwänzte und begann, sich herumzutreiben. Später fing er mit Drogen und Alkohol an. Der zweite Sohn, Oyvind tarnte sein Verhalten geschickter, doch nach und nach mussten die Eltern feststellen, dass auch er sich auf ziemlich zwielichtigen Wegen befand. Eines Tages kam David nach Hause und verkündete, dass er kein Christ mehr sei.
“Ich wurde richtig verzweifelt und machte mir große Vorwürfe. In mir tobten Selbstanklage und Verdammnis. Irgend etwas mussten wir verkehrt gemacht haben. Was bei uns geschah, lastete ich mir und Age an. Ich erkannte hunderte von Gründen, warum die Jungen auf die schiefe Bahn geraten waren – und jeder Grund machte mein Herz noch schwerer.“
„Eines Tages kam David betrunken nach Hause und übergab sich im Badezimmer.
Die Situation war völlig unreal für mich. Wie ein Schock. Ich hatte nicht gewusst, dass er so tief gesunken war. Wir hatten das Haus voller Gäste, die gerade dabei waren, sich zu verabschieden. Ich schloss die Badezimmertüre und ahnte nicht, wie ich schaffen sollte, das Gesicht zu wahren, bis alle gegangen waren… ”
Der Junge mit dem Hahnenkamm
Lillemor erinnert sich an den Tag, als Oyvind von der Schule heimkam und sich weigerte, seine Kappe abzunehmen. Irgendwann musste er es ja tun – und Lillemor bekam einen weiteren Schock. Oyvind hatte sich fast alle Haare abrasieren lassen – nur ein hoher, schwarzer Hahnenkamm stand noch.
Was hatten sie falsch gemacht?
„Wir waren das Pastorenehepaar und sollten eigentlich mit gutem Beispiel voran gehen. Stattdessen hatte unser einer Sohn Alkoholprobleme und nach dem anderen drehten sich sogar die Leute auf der Straße um.“
An einem Sonntag hatten sie in ihrer Gemeinde im Oslo Kristen Senter Besuch von einigen bekannten Pastoren aus Amerika. Sie saßen in der vordersten Reihe – mit weißen Hemden, Seidenkrawatten und gebügelten Anzughosen. Nach der Versammlung luden sie dazu ein, zum Gebet nach vorne zu kommen. „Ich wäre beinahe unter den Stuhl gekrochen” erzählte Lillemor, – “denn Oyvind, mit seinem 20 Zentimeter hohem Hahnenkamm, ging nach vorne. Ich hörte, wie die amerikanischen Prediger miteinander flüsterten. Sicher hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht einen solchen Exoten gesehen. Einer unserer Copastoren klärte sie dann auf: „Das ist der Sohn von Alesjaer!“ Ich wurde wütend und war mir ganz sicher, dass Oyvind uns damit nur provozieren wollte. Doch er meinte es ernst.
Ihre Gemeinde lobt Lillemor in den höchsten Tönen. Nicht ein negatives Wort bezüglich ihrer Jungs kam ihr zu Ohren.
Sie verschweigt aber nicht die zermürbenden Gedanken, die sie sich über die Bibelstelle machte, dass christliche Leiter gehorsame Kinder haben sollen. Musste ihr Mann als Gemeindeleiter zurücktreten? Age betete über diese Angelegenheit und erhielt für sich eine konkrete Antwort. Im Bibeltext steht, dass man keine Leiter einsetzen soll, die ungehorsame Kinder haben. Als er Pastor dieser Gemeinde geworden war, hatten sie in diesem Bereich keine Probleme gehabt. Es konnte damit wohl nicht gemeint sein, dass Leiter ihren Dienst gemäß dem Entwicklungsstand ihrer heranwachsenden Kinder ausüben konnten oder quittieren mussten. So wurde es für Age nicht aktuell, sein Amt niederzulegen.
Wendepunkt
Die schwierige Zeit dauerte fast vier Jahre. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, zuckte Lillemor zusammen. Was war nun schon wieder passiert? Es waren nicht nur die früheren Engelchen, die ihr den Nachtschlaf raubten. Anonyme Briefe von anklagenden Christen machten ihnen das Leben schwer. Mahnbescheide von öffentlichen Ämtern, Polizeibesuche und Herzeleid lösten einander ab. „Ich hatte einen ständigen Kloß im Magen“, erinnert sie sich. Doch dann kam der Wendepunkt.
Auf einmal hörte David mit dem Rauschgift und den Drogen auf…etwas war im Gang. „Es war 1991 und wir hatten einige Mega-Veranstaltungen mit Reinhard Bonnke in Oslo. An einem Abend wusste ich, das David anwesend war. Plötzlich überfiel mich eine merkwürdige Unruhe. Bonnke lud die Besucher ein, ihr Leben Jesus Christus zu übergeben. Ich befürchtete, dass David in einer Gefühlswallung nach vorne kommen würde, um sich zu bekehren – um später festzustellen, dass es nur ein Bluff gewesen war.
David hatte die Veranstaltung längst verlassen und war in seine Wohnung zurückgekehrt. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen. In seiner Verzweiflung schrie er: „Jesus, hilf mir“, und die Schmerzen verschwanden. Einige Zeit später spielte er gerade alte Erweckungslieder, als seine Eltern nach Hause kamen.
„An einem Abend, nachdem wir uns bereits gelegt hatten, klopfte David an unsere Schlafzimmertüre. Er druckste herum, doch dann rückt er mit einer Neuigkeit heraus: „Ich wollte Euch erzählen, dass ich mich bekehrt habe – und ich möchte auf eine Bibelschule gehen“. Und wieder gab es eine schlaflose Nacht; doch diesmal vor lauter Freude. Wir freuten uns die ganze Nacht“, so Lillemor.
Was Oyvind betraf, stelle seine Eltern fest, dass er in dieser Zeit viel Elend durchlebt hatte. Sein Zimmer zu Hause hatte einen seperaten Eingang und sie hatten nicht bemerkt, welch zwielichtige Gestalten dort ein- und ausgegangen waren. Doch dann begann Oyvind auf einer weiterführenden christlichen Schule.
„Wir lieferten einen jungen Wilden mit Irokesenschnitt ab (er sah „verboten“ aus) und erhielten einen Mann zurück. Das Schulpersonal reagierte professionell. In diesem Jahr ist so unglaublich viel mit ihm geschehen…“
In der Einleitung ihres Buches schreibt Lillemor, dass sie in diesen schwierigen Jahren wohl viele Fehler gemacht hat. „Oft war ich so voller Sorgen und Verzweiflung, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich wurde wütend, anstatt ruhig zu bleiben. Wir stritten viel und es kam zu hässlichen Szenen. Und immer wieder kämpfte ich mit Selbstverdammnis.
Das wichtigste, was wir für unsere Kinder tun können ist, für sie zu beten. Und ihnen in Liebe zu begegnen“ sagt Lillemor. „Lasst uns die positiven Eigenschaften an ihnen hervorheben und nicht nur das schwierige und schlechte Verhalten. Und wir sollten um Verzeihung bitten, wenn wir Dinge gesagt oder getan haben, die nicht in Ordnung gewesen sind.“
Nach diesen Jahren hat Lillemor ein großes Verständnis für Familien, die mit solchen Problemen zu kämpfen haben. Und eine große Liebe für Menschen mit Suchtproblemen.
An einem Tag geschah etwas Merkwürdiges. „Ich traf einen jungen Mann, der Oyvind besuchen wollte. Er war angetrunken, stank fürchterlich und sah übel aus. Mir durchfuhr eine solche Zuneigung zu diesem „Jungen“. Am liebsten hätte ich ihn an mich gedrückt.
Es schienen Welten zwischen dem Abend auf Oslos Flaniermeile und dem jetzt. Heute sehe ich hinter die Fassade – auf ein schlagendes, verletzliches Herz.
Von Ove Eikje, Dagen, Freitag, 7.Februar 2003 www.dagen.no
übersetzt von Beate Nordstrand Das Interview ist der norwegischen Zeitung Dagen entnommen.