„Wir haben unser Kind verloren“

Ein Verlustschmerz – schwer wie kaum ein anderer zu ertragen

von Heike Malisic

Mit meiner kleinen acht Monate alten Tochter war ich unterwegs zum Fußballplatz, um meinen Sohn vom Training abzuholen. Es war ein sonniger schöner Tag, und als mir eine bekannte Mutti, die ich vom Kindergarten kannte, entgegen kam, strahlte ich vor Freude, sie nach langer Zeit wieder zu sehen. Wir umarmten uns, und plötzlich sagte sie ganz dicht an meinem Ohr: „Schön, dich wieder so glücklich zu sehen mit deiner kleinen Tochter“.

Sofort schossen mir die Tränen in die Augen. Ich war glücklich, ja, aber auch nicht. Vor zwei Jahren, da dachte ich manchmal, das große Los gezogen zu haben: Glücklich verheiratet mit einem wundervollen Mann, der als Pastor seine Berufung gefunden hat und seiner Arbeit mit Hingabe nachgeht, vier gesunde Kinder, engagiert in der Frauenarbeit, viele Freundschaften, Haus, Garten… Klar, das Leben hatte auch Höhen und Tiefen, aber wir befanden uns gerade in einem enormen Hoch, so dass ich manchmal dachte: „Es ist wie die Ruhe vor dem großen Sturm“.

Julian, unser 7-jähriger, war weg!

Und dann kam dieser Montag. Vier Wochen genossen wir bereits den Urlaub in unserem Ferienhaus auf der Insel Sardinien, wie jedes Jahr. Zwei Tage vor unserer Abreise trafen wir uns mit alten Bekannten am Strand. Dann ging alles sehr schnell. Mein Mann Vlado holte unsere Kinder aus dem Wasser, da merkten wir, dass das Meer an diesem Tag unruhig war. Während ich den Kleinsten am Ufer in Empfang nahm, schnürte mir etwas die Kehle zu und ich wußte, dass  irgend etwas geschehen war.

Julian ,unser 7-jähriger, war weg! Sofort suchten wir den Strand und das Wasser ab, keine Spur von unserem Sohn. Plötzlich sah ich nur Leute rennen, und in einer Vorahnung betete ich: „Gott, bitte, lass es nicht Julian sein“. Gott hatte einen anderen Plan! Jemand hatte unser Kind aus dem Wasser geborgen. Eine Ewigkeit lang versuchten Ärzte und Sanitäter, Julian wiederzubeleben – vergeblich. Später im Krankenhaus erfuhren wir dann die endgültige schreckliche Wahrheit. Wir mussten mit nur drei Kindern wieder nach Hause fahren.

Das „Warum“ bekamen und bekommen wir in diesem Leben wohl nicht beantwortet, wir würden es auch nicht verstehen. Uns und unseren Kindern erklären wir: „Für jeden Menschen gibt es einen Zeitpunkt, an dem er sterben wird, das liegt allein in Gottes Hand. Er weiß, was das Beste für uns ist“. Julian geht es beim Vater im Himmel gut, das wissen wir, der Schmerz des Verlustes aber ist manchmal hier auf Erden kaum zu ertragen. Dann nützt einem dieses Wissen auch nichts, dann tut es nur weh, im Herzen und überall. Sich Trost von Gott zu holen, bedeutet dann auch, weinen zu dürfen, ihm zu sagen, dass wir Julian eigentlich lieber bei uns, auf unserem Schoß, hätten. Ich glaube, Gott versteht das gut, und er hilft uns, den Schmerz auszuhalten. Er lässt immer nur so viel Schmerz zu, wie man tragen kann. Das haben wir erlebt und erleben wir immer noch.

Jetzt war alles zu spät

Am Schlimmsten war für mich am Anfang, dass ich Julian nicht mehr sagen konnte, wie lieb ich ihn habe. Er ist einfach so gestorben. Und dann lag er stundenlang im Krankenhaus leblos vor mir. Ich wollte ihm noch so viel sagen, dass ich ihn liebe, dass mir alle Ungerechtigkeiten leid tun. Ich hatte das Gefühl, ihm meine Liebe nicht genug gezeigt zu haben. Jetzt war es zu spät. Plötzlich gab es nur noch Schuld, die man sich vorwarf. Ich wollte mich gerne für jede Minute, die ich mir nicht Zeit genommen hatte, für jedes böse Wort, jeden negativen Gedanken entschuldigen, nicht zu schweigen von dem großen Vorwurf: „Warum haben wir nicht genügend aufgepasst?!“ Lange habe ich gebraucht, um diese Last an Jesus abzugeben, die Vergebung meiner Schuld, wenn es denn überhaupt eine gewesen ist, anzunehmen, und mich wieder frei zu fühlen. Ich wusste, Jesus vergibt alle Sünden, aber ich meinte, meine Schuld wäre zu groß, und ich müsse sie mit mir alleine herumtragen. Wie hochmütig von mir! Ich bin Jesus so dankbar, dass er mir wieder Frieden in mein Herz gegeben hat und ich mir keine Vorwürfe machen brauche. Jeden Tag sagen wir Jesus im Gebet, er soll Julian einen dicken Kuss von uns geben und ihm sagen, dass wir ihn lieb haben.

Kein Mensch kann einen anderen ersetzen!

Die Entscheidung, noch ein Kind zu bekommen, kam sehr schnell. Wir wollten wieder eine komplette Familie sein. Nach dem Tod von Julian fand sich keiner mehr zurecht. Wir waren unvollständig, und jeder musste seinen Platz wieder neu finden. Mit einem neuen Kind wollten wir unsere Runde am Tisch wieder komplett machen. Als ich dann schwanger wurde, war es für uns sehr anstrengend, immer jedem zu erklären, dass das Baby natürlich kein Ersatz für Julian sei. Kein Mensch kann einen anderen ersetzen. Julian bleibt immer Julian, die Erinnerung an ihn in unseren Herzen. Während meiner ganzen Schwangerschaft hatten Vlado und ich Angst, dem Baby könnte etwas geschehen. Unser Urvertrauen war angeknackst. Nach vier Jungen ließen wir uns bewußt nicht saqgen, was es wir, aber alle Leute meinten: „Hoffentlich wird es ein Mädchen!“ Ich hatte Angst, Vorlieben zu entwickeln, wollte nur, dass das Kind gesund auf die Welt kommt. Als dann unsere Tochter geboren wurde, waren wir so dankbar, und mein erster Gedanke war: „Mir dir beginnen wir wieder, an Wunder zu glauben“.

Wir können jetzt Schmerz zulassen

Durch unsere Tochter Joana fingen wir alle an, unseren Platz in der Familie neu zu finden. Sie löst unsere Trauer nicht auf, aber sie gibt uns neue Hoffnung. Viele sind der Meinung, jetzt, mit dem neuen Baby, ist alles wieder gut, können wir wieder glücklich sein. Sind wir auch, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, nur bis zu unserer Trauer. Sie ist nicht immer wie ein Schatten über uns, es gibt Wochen, da weint keiner, aber manchmal ist es einfach nur schlimm. Dann lassen wir den Schmerz auch zu, nicht um uns zu grämen und uns von unserem Selbstmitleid überrennen zu lassen, sondern weil Julian es wert war, um ihn zu trauern. Unser Wunsch als Familie, mit dem Baby wieder komplett zu sein, hat sich nicht erfüllt. Wir sitzen mittlerweile wieder zu sechst am Tisch, aber eigentlich müssten wir ja sieben sein. Es wäre geheuchelt, würden wir behaupten, Gottes Trost nähme uns den Schmerz ganz und gar. Trost zu erhalten, löst die Trauer nicht auf, aber er lenkt ab, gibt neue Hoffnung und zeigt neue Wege, um sich in der neuen Situation zurecht zu finden. Aber wir trauern auch nicht seit zwei Jahren 24 Stunden am Tag, wir tragen nicht den schwarzen Trauerflor ständig mit uns herum und igeln uns ein. Durch die vielen Gebete unserer Freunde, der Gemeinde und auch ganz fremder Personen werden wir wirklich getragen. Gott benutzt oft andere Menschen, um uns zu segnen. Ein Beispiel dafür, weil es mir so nahe ans Herz ging: Etwa zwei Monate nach Julians Tod rief uns ein Bruder aus Hamburg an, den wir überhaupt nicht kennen. Er hörte von unserem Schicksalsschlag, und bekam von Gott aufs Herz gelegt, jeden Tag für uns zu beten. Das tat er auch. Wir waren sehr gerührt über so viel Liebe. Vor Weihnachten rief er dann nochmals an, erkundigte sich nach uns und wollte das Alter unserer Kinder wissen. Zu Weihnachten kam dann ein riesiges Paket mit Süßigkeiten und Spielzeug für die Kinder und einer sehr lieben Karte von dieser Familie. Nicht des materiellen Wertes wegen, sondern wegen der Großherzigkeit und dem Bewußtsein, wie Gott Menschen gebraucht, um uns zu erfreuen, waren wir sehr getröstet.

Unser Leben geht weiter…

Wir erleben es als Familie, wieder glücklich zu sein, wir können uns freuen, planen, haben Spaß miteinander. Auch wenn anfangs Zweifel und Angst da waren, können wir jetzt von ganzem Herzen sagen: „Es war richtig, neues Leben zu schenken“. Unsere kleine Tochter ist eine Bereicherung für uns alle, und auch in ihr wird der Trost und die Liebe Gottes sichtbar. Unser Leben geht weiter, anders als wir dachten, aber Gott hat es so gewollt. Und Julian sehen wir auf jeden Fall wieder, unsere anderen Kinder müssen ihre Entscheidung für Gott noch treffen.